Schicksalsplan und das familiäre Unbewusste
Allgemeine Tiefenpsychologie
Szondis zentrales Anliegen war eine Integration und Vereinigung der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen in eine „Allgemeine Tiefenpsychologie“.
Szondi wollte die Vielfalt psychotherapeutischer Perspektiven als Manifestationen des einen, jedoch polyglotten Unbewussten belassen. Er verstand die einzelnen tiefenpsychologischen Richtungen als eigentliche Sprachschulen, die sich auf die verschiedenen Ausdrucks- und Kommunikationsformen der menschlichen Seele spezialisiert haben.
Szondi überliess es künftigen Forschungen, weitere „Sprachgebiete“ des Unbewussten zu entdecken. Seitdem hat die transpersonale Psychologie weitere Bereiche des Unbewussten beschrieben.
Das familiäre Unbebwusste
Mit der Konzeption des „familiären Unbewussten“ (ungarisch: családi tudattalan) vermochte Szondi ab 1942 seine Schicksalsanalyse an die Psychoanalyse Freuds mit ihrem „persönlichen Unbewussten“ und an die Analytische Psychologie von C.G. Jung mit ihrem „kollektiven Unbewussten“ anzuschliessen.
Die rezessiven Gene regen auf der psychologischen Ebene zur Bildung von „dynamisch-funktionellen Ahnenbildern“ an, wohl eine Art Selbst- und Objekt-Repräsentanzen (Schemata), die in Schicksalspläne und Schicksalsgestaltungen einfliessen.
Durch die wechselseitige Projektion derselben Ahnenbilder (Szondi spricht in diesem Falle von „familiärer Projektion“) entsteht die horizontale, seelisch partizipative Verbindung genverwandter Individuen, eine Art Unio mystica, die als Verschmelzung, Anziehung, Seelenverwandtschaft und Verliebtheit erlebt werden kann.
Die therapeutische Analyse eines Schicksalsplanes entspricht in vielen Punkten einer Skriptanalyse der "Transaktionsanalyse" nach Eric Berne. Mit seiner Ahnentheorie und deren psychotherapeutischen Anwendung antizipierte Szondi Sichtweisen der um Jahrzehnte später erscheinenden "Transpersonalen Psychologie" und Psychotherapie.
Ahnenträume und Theorie des Traumes
Auch im Traumleben können die dynamisch-funktionalen Ahnenrepräsentanzen zur Bildung von Ahnengestalten anregen. Der träumende Mensch lässt sich Ahnengestalten begegnen, die Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale zeigen, die im schicksalspsychologischen Triebschema diagnostisch unterschiedlichen Triebfaktoren und Erbkreisen zugeordnet werden.
In der Sicht Szondis versucht der träumende Mensch mit seinem ungelebten, abgespaltenen „Hintergänger“ wieder in Kontakt zu treten, ihn wieder als Lebensmöglichkeit anzueignen und zu integrieren.
Im Traum versuchen Menschen wieder mit sich eins zu werden. Im Träumen ist der Mensch zugleich Regisseur und Akteur. Träumen ist ein „autogener Partizipations- und Integrationsversuch“ des vereinsamten Menschen, der seiner Ganzheit verlustig gegangen ist.
Zwischen der Partizipationstheorie des Traumes von Szondi und dem gestalttherapeutischen Traumverständnis von Fritz Perls besteht bis in Einzelheiten von Formulierungen Übereinstimmung.
Die Mehrgenenerationenperspektive der Schicksalsanalyse
Das familiäre Unbewusste bildet ein unsichtbares Band, das alle Familienmitglieder vertikal, über Generationen hinweg, an den „Stromkreis der Ahnen“ anschliesst. Es verbindet aber auch horizontal die noch lebenden Mitglieder einer Familie. Durch die vertikalen und horizontalen Verbindungen bilden die Familienmitglieder ein affektiv hochbesetztes Netzwerk.
Die Schicksalsanalyse betrachtet den einzelnen Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern eingebettet in den sichtbaren und unsichtbaren, das ganze Leben begleitenden Kontext von Herkunftsfamilie und Anverwandtschaft. Das Familienerbe beeinflusst vielfach schicksalshaft scheinbar so individuelle Ereignisse wie Partnerwahl, Freundeswahl, Berufswahl, Erkrankung und das Sterben.
Werden die familiären Aufträge und Erwartungen jedoch unbewusst übernommen und in blindem Zwang ausgelebt, behindern, ja unterbinden sie allzu leicht Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des einzelnen Familienmitgliedes. Damit verfällt ein Familienmitglied dem „familiären Wiederholungszwang“ und einem „familiären Zwangsschicksal“, das mit dem Erleben einhergeht, nicht das eigene Leben zu führen.
In den Anliegen und therapeutischen Zielsetzungen trifft sich die Mehrgenerationenperspektive Szondis wesentlich mit der kontextuellen „Mehrgenerationen Familientherapie“ von Ivan Boszormenyi-Nagy und der „Koevolutiven Paartherapie“ nach Jürg Willi.
Das Triebsystem
Im Zentrum der Schicksalspsychologie steht das durch die Vierzahl geprägte, die Ganzheit der Seele ausdrückende polar angelegte Strukturschema der Schicksalspsychologie, das Triebsystem Szondis. Es kennt
für alle vier Vektoren insgesamt 64 Vektorbilder.
Sie bilden nach Szondi die (genetisch verankerten) Bausteine der menschlichen Schicksalspläne und Existenzformen, die in den Triebprofilen der Experimentellen Triebdiagnostik visualisiert und deutbar werden. Alle Faktoren und Tendenzen stehen in einer polar-komplementären Beziehung. In und zwischen den vier Trieben findet ein dialektisches Zusammenspiel der Triebfaktoren und Triebtendenzen statt.
der Erbkreis der sexuellen Abnormitäten (S-Vektor)
der epileptiforme-paroxysmale Erbkreis (P-Vektor)
der schizoforme Erbkreis (Sch-Vektor)
der zirkuläre oder manisch-depressive Erbkreis (C-Vektor).
Ebenso ordnete Szondi neu einem eigenständigen Kontakttrieb leibnahe Beziehungsformen zu, die geprägt werden von den Bedürfnissen nach Angenommensein, Anklammern, Halt, Sicherheit und Ernährtwerden.
Damit unterschied Szondi neben den von Freud beschrieben libidinösen Übertragungsbeziehungen zahlreiche weitere nichtlibidinöse Übertragungsbindungen, die in der psychoanalytischen Selbstpsychologien und Narzissmustheorien erst um Jahrzehnte später als Selbstobjekt-Übertragungen (Spiegelübertragung, Zwillingsübertragung, idealisierende Verschmelzungsübertragung nach Heinz Kohut) begriffen wurden.
Mit dem eigenständigen Kontakttrieb lässt sich das Triebsystem Szondis mit der Bindungstheorie von John Bowlby verbinden. Bowlby und Szondi berücksichtigten bei ihren Untersuchungen und Überlegungen zum Bindungsverhalten auch verhaltensbiologische Forschungen.
Der Szondi-Test
Die Experimentelle Triebdiagnostik, bekannt als Szondi-Test, ist ein Bildwahlverfahren und zählt zu den projektiven Tests.
Aus jeder Bilderserie werden die zwei sympathischsten und die zwei unsympathischsten Bilder gewählt. Eingesetzt als psychodiagnostisches Instrument zielt der Test mit Hilfe vielfältiger Deutungsmethoden auf die Erfassung von triebdynamischen Prozessen, von Sozialisierungs- und Humanisierungsmöglichkeiten und auf die Sichtbarmachung von Existenzmöglichkeiten (Existenzformen).
Die Sprachmuster, die Szondi für die Deutung der einzelnen Testmerkmale bereitlegte, zeigen alle Merkmale, die typisch für Prozessinduktionen sind, die von HypnotherapeutInnen und VertreterInnen des „Neurolinguistischen Programmierens“ verwendet werden.
Die Sprachmuster zeichnen sich aus durch eine kunstvolle Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit. Schon das Anhören oder Lesen der in den Aussagen unspezifisch und allgemein gehaltenen Auswertung bringt die ZuhörerInnen bzw. LeserInnen in eine Bewusstseinsverfassung, die vermeinen lässt, eine auf ihre individuelle, persönliche Lebenssituation zugeschnittene Auswertung zu erhalten. In Wirklichkeit sind es die zuhörenden oder lesenden KlientInnen selbst, welche unbewusst die fehlenden Spezifikationen mit höchst individuellen Inhalten ihrer Lebens- und Leidensgeschichte ergänzen.
Damit schiebt sich der Auswertungstext als Kommunikationsmittel, als „Erzählfolie“ (Bürgi-Meyer), zwischen SchicksalsanalytikerIn und KlientIn. Bei gelungenem Rapport setzt in Ratsuchenden ein emotionaler und kognitiver Prozess der Selbstbefragung und Selbstreflexion ein.
Die Wirklichkeitsschau der Schicksalsanalyse
Das schicksalspsychologische Triebsystem begreift das menschliche Leben primär als immer währenden Wandel, als Werden, immerfort Fliessendes, als Kreislauf und Dynamik. Die schicksalsprägende Dynamik des Wandels stammt aus dem triebdynamischen Wechselspiel der (nach Szondi genetisch verankerten) komplementären Polaritäten. Was uns als stabile Struktur der physikalischen und seelischen Welt erscheint, ist nach Szondi in Wirklichkeit ein dynamischer zyklischer Prozess.
Vordergänger und Hintergänger, Aspekte der seelischen Ganzheit, gehören untrennbar zusammen. Zwischen beiden bestehen vektorielle und faktorielle „simultane Kontrastwirkungen“, eine „Wirkungssimultaneität“.
Vorder- und Hintergänger bilden zusammen das „Ganztriebbild“.
In der Zusammenschau aller vier Triebe („Vektoren“) entsteht das „Urprofil“ der Schicksalsdiagnostik. Es ist ein Abbild der seelischen Ganzheit. Szondi war sich bewusst, dass sein Triebsystem alle Merkmale einer polhaften „Ursprache“ aufweist. Charakteristisch für sie sind Wortbildungen mit polar entgegengesetzten, jedoch sich nicht ausschliessenden Bedeutungen sowie ein ganzheitliches „Sowohl-als-auch"-Denken.
Das Denken, das dem schicksalsanalytischen Strukturschema zugrunde liegt, zeigt alle wesentlichen Merkmale des von Jean Gebser beschriebenen, „kreisenden und polhaft ozeanischen Denkens“, das dem „Mythischen“ nahe steht.
Szondi verweist auf die „Ursprache der Ägypter“. Ihm war jedoch nicht bewusst, dass sein axiales und oktogonales Polaritätensystem in Struktur und Deutungsmethodik erstaunlich viele Parallelen mit dem Buch der Wandlungen, I Ging, und dem ihm zugrunde liegenden taoistischen Denken aufweist. (Das Buch der Wandlungen war jedoch in der Privatbibliothek Szondis anzutreffen).
Szondi hat hingegen eine Fülle von Bildern und Begriffen aus der Mystik der hinduistischen Upanishaden verwendet, um die Funktion des die Polaritäten überbrückenden Ich zu umschreiben.
Für die polar-zyklische Triebdynamik gebraucht Szondi das Bild des Rades, er spricht von Umdrehungen der Vektoren und von Umlaufbahnen der Faktoren, vom Schicksalsrad und von Schicksalskreisen. Das metaphysische Ich, das Pontifex-Ich, der Überbrücker aller Gegensätze und Polaritäten, der innere Lenker des Schicksals, Atman, bildet die Achse des Schicksalsrades, in welche die faktoriellen Pole wie Speichen münden.
(Weitere Ausführungen: Visionäre Konzepte: Psychologie der vierten Dimension
Visionäre Konzepte: Schicksalsdiagnostik – Spiegel der Wandlungen)
Krankheits- und Gesundheitsbegriff
Aus der triebdynamischen Polaritätenlehre ergibt sich ein an östliche Denkweisen erinnerndes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Die Art, wie Menschen mit ihren seelischen Polaritäten umgehen, prägt den Schicksalslauf des einzelnen Menschen und der Menschheit.
Gesund ist ein Mensch, der seine seelischen Gegensätze in komplementäre Polaritäten zusammenzuführen und deren relatives Gleichgewicht und dialektisches Zueinander zu ertragen vermag. Erträgt ein Mensch das komplementäre Zusammenspiel der polar angeordneten Triebkräfte nicht, spaltet er die Pole der Triebfaktoren und Triebtendenzen ab. Dualisiert er sie als unversöhnliche Gegensätze, so erkrankt er.
Szondi spricht auch von „Triebentmischung“. Bei Triebentmischungen oder diagonalen Spaltungen geraten die Triebbedürfnisse (Faktoren) in Divergenz und Opposition zu einander.
Der Heilweg führt über die Kontaktnahme mit dem Abgespaltenen und über Integration oder „Triebvermischung“. Triebvermischung oder „Legierung“ meint die gegenseitige Steuerung und Kooperation der Triebfaktoren.
Aggressionstheorie
Das vierdimensionale, nach vier Lebensbereichen (Vektoren) ausgerichtete Triebsystem der Schicksalsanalyse bildet den Ausgangspunkt für eine differenzierte Typologie aggressiven Verhaltens. Szondi unterscheidet vier Qualitäten menschlicher Aggression, die triebpsychologisch betrachtet auf spezifische Energiequellen zurückzuführen sind: