Leopold Szondi – Schicksal von Person und Werk
Biografie
Leopold Szondi wurde als Lipót Sonnenschein am 11. März 1893 in der ehemals ungarischen Stadt Nyitra, heute slowakisch Nitra, geboren. Er war der Zweitjüngste von neun Kindern aus der zweiten Ehe des Vaters Abraham Sonnenschein mit Rézi Kohn. Aus der ersten Ehe des Vaters stammten vier Kinder. Durch die Existenznot gezwungen zog die Familie Sonnenschein 1898 von Nyitra nach Budapest, weil dort Söhne und Töchter Arbeit gefunden hatten und die Familie ernähren konnten.
Der Vater Abraham Sonnenschein war Schuhhandwerker, genauer Schäftemacher. Er hatte jedoch seinen Beruf schon früh aufgegeben. Da er im Grunde seines Wesens ein jüdischer Gelehrter war, widmete er sich vielmehr ganz dem Studium der Thora, talmudischer und chassidischer Schriften. Szondi drückte stets die Überzeugung aus, dass er durch seinen Vater zu einem religiösen Menschen geprägt worden sei.
Von der Mutter, Rézi Kohn, wissen wir leider kaum etwas, abgesehen von der Tatsache, dass sie aus der Nähe von Nyitra stammte. Sie rückte mit ihrer entbehrungsreichen Fürsorge für die Familie in den Hintergrund.
1911 machte der 18-jährige Lipót Sonnenschein die Matura. Im gleichen Jahr verstarb sein Vater.
Namenswechsel
Der Achtzehnjährige liess seinen bisherigen Familiennamen Sonnenschein in „Szondi“ umbenennen. Lipót Szondi begann in Budapest das Studium der Medizin. Während des zweiten Weltkrieges wurde sein Studium zwischen 1914–1918 immer wieder durch den Sanitätsdienst an vorderster Kriegsfront unterbrochen.
In der Hölle des Krieges
Während Frontkämpfen im Jahre 1916 trug Szondi in seinem Militärsack das Buch "Die Traumdeutung" von Sigmund Freud. Im Schrapnellfeuer drang ein Geschossteil in seinen Tornister ein und blieb im dicken Buch stecken. Dazu bemerkte Szondi gerne, dass Sigmund Freud ihm so das Leben gerettet hatte. Szondi wurde ob seiner Tapferkeit ausgezeichnet. Nach eigener Aussage verlor er in der Hölle des Krieges die Angst vor dem Tode.
Forscherjahre
Nach Abschluss des Medizinstudiums war er 1919-1926 in Budapest wissenschaftlicher Mitarbeiter von Professor Pál Ranschburg, einem damals sehr renommierten Experimentalpsychologen, Arzt und Heilpädagogen. 1927-1941 wirkte Szondi mit hohem Ansehen als Professor und Leiter des für ihn geschaffenen Königlich-Ungarischen Staatlichen Heilpädagogischen Forschungs-Laboratoriums für Psychopathologie und Psychotherapie an der Hochschule für Heilpädagogik in Budapest. Aufgrund ausgedehnter Familienforschungen und erbstatistischer Untersuchungen erarbeitete er eine neue Theorie der Krankheits- und Partnerwahl und eine eigene Triebpsychologie.
Judenverfolgung
1941 verlor Szondi aufgrund antijüdischer Berufsverbote seine staatlichen Stellen und alle Titel in Lehre und Forschung. Er war als Privatgelehrter isoliert und ohne Zugang zum öffentlichen Publikationswesen. Jüdische Mitarbeiter Szondis wurden in die mörderischen Arbeitskompanien hinter der Kampffront eingezogen. Trotz des zunehmenden gegen die Juden gerichteten Terrors arbeitete Szondi in Budapest unbeirrt an der Entwicklung seiner Triebpsychologie weiter. Im Geheimen hektographierten Schüler und nichtjüdische Mitarbeiter seine triebdiagnostischen Arbeiten, die er als Jude nicht mehr in öffentlichen Vorlesungen vortragen durfte.
Der Naziterror griff immer einschneidender in den Alltag der Familie Szondi ein. Die Familie musste den Judenstern tragen und in ein sog. "Judenhaus" umziehen.
Szondi schreibt:
"Diese Zeitspanne habe ich, wie ich zurückblickend feststellen kann, mit schicksalsanalytischer Ruhe hingenommen. Der Einmarsch der Deutschen hat meine ärztliche Praxis gänzlich aufgehoben, und meine ganze Tätigkeit erschöpfte sich in der Rettung von Ärzten und Freunden, die Selbstmord begehen wollten. Die Deportationen hatten bereits in den Vorstädten von Budapest begonnen, und wir warteten ruhig auf unser Schicksal. Ich habe keinen Augenblick daran gezweifelt, dass auf uns ein anderes Schicksal wartet. Das ist auch eingetroffen."
Deportation
Im Juni 1944 wurde Szondi angeboten, an einer "freiwilligen Deportation" nach Israel teilzunehmen. Den Hintergrund dieser Offerte bildete ein Geldhandel ("Becher-Kastner-Aktion") zwischen Repräsentanten der jüdischen Hilfsorganisation Waadah (besonders Dr. Reszö Kastner, Joel Brand und Andreas Biss) und Vertretern von Heinrich Himmler. Auch Adolf Eichmann war eingeschaltet. Am 29. Juni 1944 wurde die Familie Szondi mit 1683 weiteren "Austauschjuden" mit dem sogenannten "Musterzug" von Budapest über Wien nach Bergen-Belsen in das am 8. Juni 1944 eröffnete "Ungarnlager" verschleppt. Gereist wurde in Viehtransportwagen, eingepfercht zu siebzig und achtzig Personen. Zehn Verwandte von Leopold Szondi, die in Ungarn zurückbleiben mussten, wurden in den folgenden Monaten Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und Verfolgung.
Flüchtling
Verhandlungen und Interventionen aus dem Ausland führten dazu, dass die Familie Szondi zusammen mit 1365 Personen am 6. Dezember 1944 in die Schweiz ausreisen konnte. Am 7. Dezember 1944 betraten sie Schweizerboden. Im Flüchtlingslager in Caux beschrieb Lili Szondi den Tagesablauf im Lager Bergen-Belsen. Der bewegende Bericht ("Egy nap Bergenben", in deutscher Übersetzung unter Familienschicksale: Bergen-Belsen) von Lili Szondi über den täglichen Überlebenskampf ihrer Familie zeigt die unterschiedlichen Überlebensstrategien von ihr selbst, von Leopold Szondi, der 16-jährigen Tochter Vera und des 15-jährigen Sohnes Peter.
"Deshalb bin ich kein Familienmensch, nicht jüdisch, kein linker Politiker, kein Zionist oder Ungare, denn alle partikulären Stellungnahmen würden eine Einengung des Ich darstellen, über die hinaus ich bereits gelangt bin."
Ausgrenzende Identifikation und Solidarität mit der eigenen Familie, der eigenen Gesellschaftsklasse, der eigenen Nation und auch der eigenen Religion bedeuteten für Szondi nicht Humanität. Denn Humanität als Endziel der Menschwerdung wäre Identifikation und Solidarität mit allen Menschen, mit der ganzen Menschheit, ungeachtet ihrer diversen Zugehörigkeiten.
Einbürgerung
Ab 1946 bis 1984 war der Wohnsitz Szondis die Stadt Zürich. Erst wohnte die Familie an der Universitäts-Strasse; dann an der Jupiterstrasse, von 1954 bis 1984 an der Dunantstrasse 3 in Zürich-Fluntern. 1959 erhielt Szondi das Schweizer Bürgerrecht.
Das Ende der Familie Szondi
Am 9. November 1971 schied in Berlin der hochbegabte Sohn Peter Szondi, seit 1965 renommierter Ordinarius für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, kurz vor Übernahme des Lehrstuhls für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich (als Nachfolger von Paul de Man) aus dem Leben.
Peter Szondi hatte den Freitod im Berliner Halensee gewählt, wie ein Jahr zuvor sein Freund, der Schriftsteller und Lyriker Paul Célan im Wasser der Seine.
1978 verstarb in Zürich die Tochter und Ärztin Vera Szondi an einer endokrinen Störung.
Szondi arbeitete an seinem Lehr- und Forschungsinstitut von 1971 bis 1983. Am 24. Januar 1986 verschied Leopold Szondi in seinem 93. Lebensjahr. Kurz darnach starb am 18. August des gleichen Jahres seine Gattin, Lili Szondi-Radványi, 84-jährig.
Szondiweg zur Erinnerung
Am 6. April 2005 beschloss der Stadtrat von Zürich, den Fussweg unterhalb des Hotels Zürichberg, von der Zürichbergstrasse 146 hangwärts bis zur Orellistrasse, als „Szondiweg“ zu benennen. Die Aufschrift der Wegtafel gedenkt Leopold Szondi (1893-1986), dem Psychiater und Begründer der Schicksalsanalyse und des Instituts für Schicksalspsychologie, sowie dem Literaturwissenschafter Peter Szondi (1929-1971).